Foto: Paul Cabine

Meister der sanften Übertreibung

Stereo Total machen seit mehr als zwei Jahrzehnten »Underground Pop Musik«

Kurz vor dem Erscheinen des neuen Albums „Ah! Quel Cinéma!“ geben sich Stereo Total beim »Fest der Linken« die Ehre. Seit 1993 besticht die in Berlin gegründete Formation aus Brezel Göring und Françoise Cactus mit musikalischem Eklektizismus und babylonischer Sprachenvielfalt. Brezel sagt »Ich habe die anarchistischen Jahre nach dem Mauerfalls wie ein großes grünes Licht wahrgenommen, alles schien möglich«. Zahlreiche Einflüsse kommen aus den 1980er Jahren. »Die Zeit der Hausbesetzungen war sehr schön, die Künstlerszene sehr interessant«, ergänzt Françoise. Das mittlerweile 17. Album erscheint im Juli, dazwischen hat die Band internationale Erfolge gefeiert und probt dennoch im altbewährten Georg-von-Rauch-Haus in Kreuzberg. Ernüchtert sagt Brezel: »Alles ist kommerzieller, konformer und kontrollierter und im Allgemeinen komplizierter« geworden, dennoch Stereo Total tanzen auf dem Fest der Linken »konzentriert im Viereck« aus der Reihe. Stereo Total machen Unterhaltungsmusik jenseits des Massengeschmacks. Vierspurkassettenrekorder, Analogsynthesizer, Schreibmaschine, Heimorgel, Chanson, sixties YéYé-beat, NDW, Rockabilly, Punkrock, Wendy Carlos und ein betörender französischer Akzent waren die Zutaten der ersten Platten. Lieder wie »Schön von hinten« kombinierten den Françoise Cactus’schen Wortwitz mit anti-technoider Primitiv-Elektronik.

2015 markierte einen weiteren entscheidenden Einschnitt: Françoise Cactus hörte auf, lediglich die Texterin, Komponistin, Schlagzeugerin und Sängerin zu sein, sondern sie war von jetzt an auch noch die Produzentin und mischte die neue Stereo Total-Platte »Les Hormones«, die im Jahr 2016 erschien. Wer wissen will, was Stereo Total ausmacht, dem sei dieser Text aus der Feder der beiden Musiker*innen empfohlen: »Unser erklärtes Ziel war es, Musik zu machen, die nicht perfekt, nicht professionell oder poliert klingt – das haben wir erreicht, diese Platte ist wirklich nicht perfekt. Allerdings gab es in den letzten zwei Jahrzehnten Aufnahmen, bei denen wir das Konzept der Imperfektion wesentlich präziser erfüllt haben. Unsere Musik nennt sich »Underground Pop Musik« – also Musik, die so verführerisch wie Pop ist, allerdings nicht den Geschmack der Mehrheitsgesellschaft trifft. Aber beginnen wir mit dem Anfang: 1992 – im Ostteil Berlins stehen in allen Straßen große Müllcontainer, in welche die Bevölkerung alles wirft, was sie an ihr früheres Leben im real existierenden Sozialismus erinnert: Schallplatten, Bücher, Fahnen, Kleidung, Möbel… Das gab uns die Idee, uns musikalisch von der Wegwerfgesellschaft inspirieren zu lassen: wir benutzten Instrumente, die niemand sonst wollte, Casios, Vierspur-Kassetten-Recorder, billige Orgeln mit Begleitautomat … Auch stilistisch ließen wir uns von (zumindest damals) vergessener und abwegiger Musik inspirieren: Moog Synthesizer-Alben, französischer Beat, Easy Listening, dilettantischer Punk, Neue Deutsche Welle, Noise, Rockabilly …

Eine Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung